Den Protestierenden der Freien Universität – und fast allen Protesten für Palästina oder gegen den Militäreinsatz in Gaza – wird vielfach vorgeworfen, ihren Protest nicht „dialogbereit“ organisiert zu haben. Sie wollten nicht sprechen, nur niederbrüllen, wie an der Humboldt im Fall einer israelischen Gastrednerin oder der deutschen Universitätspräsidentin bewiesen wird. Aber: Welcher Dialog soll das sein, mit wem soll er geführt werden? Mit wem sollen die Protestierenden sprechen, über was?
Mit einer Hochschulleitung, die 10 Minuten nachdem Anfänge eines Camps oder eines Sit-Ins sichtbar werden, die Polizei auf den Plan ruft? Mehreren Angaben zufolge schaltete das Präsidium der FU bereits um 10:10 Uhr am Dienstag morgen die Polizei ein, das Camp war für 10 Uhr angekündigt. Um 10:20 war massive Polizeipräsenz gegeben, um 12:20 begann die Räumung.
Soll man in Dialog gehen mit dem Journalisten Sebastian Engelbrecht vom DLF, der zu Protokoll gab, man hätte PressevertreterInnen „Ihr seid nichts“ zugerufen, was ihm zufolge bereits antisemitisch sei, denn es folge dem „Prinzip der totalen Negation des Anderen“?
Welchen Dialog führen mit den KommentatorInnen, die zum Protestbrief der Lehrenden wenig mehr zu sagen haben als dass 1. der Staat das Gewaltmonopol habe, und 2. der Brief keinen Bezug nehme auf das Massaker der Hamas?
In welchen Austausch soll man gehen mit einem Bundesministerium für Justiz, dass simpel verkündet „From the River to the Sea“ sei ein „Hamas-Slogan“ und damit strafbar, nur um ein radikal vages „je nach Umständen“ dazwischen zu schieben, unter anderem weil Gerichte diese Frage uneindeutig bewertet haben?
In welchen Austausch soll man gehen mit Institutionen, die eine Gastprofessur oder Veranstaltung oder Preisverleihung aufkündigen, weil jemand vor Monaten eine Protestnote unterschrieben hat, einen BDS-Post auf Instagram geliked hat, oder irgendwann etwas nicht-strafbares in irgendeinem Kontext gesagt oder getan hat?
Welchen Dialog eingehen mit dem Polizeibeamten in Neukölln, der im Oktober mit dem Stiefel die Kerzen austrat, die still-protestierende Menschen im Gedenken an die Toten auf der Strasse aufgestellt hatten?
Welchen Dialog veranstalten mit der BILD, die vom „israelhassenden Mob“ und den “UniversiTätern“ schreibt und personalisierte Angriffe druckt wie zu Dutschke-Zeiten? Oder mit der taz, die ihren FAZ-LeserInnen mit gemeinsamen Ressentiments über ein „freies queer*feministisches Regenbogen-Kalif*inat“ unterhält?
Was ist der angestrebte Dialog, wenn Ralf Michaels, Direktor des MPI für Privatrecht, im DLF zur Protestnote gegen die polizeiliche Räumung an der Freien Universität vom Moderator als erstes gefragt wird: „Muss es Platz geben für Judenhass an deutschen Universitäten?“
Dieser Dialog auftakt im DLF war immerhin realistisch. Große Teile der deutschen Öffentlichkeit haben derzeit nur diese Frage: „Fordern Sie Platz für Judenhass?“ um die eigentliche Frage zu verschleiern: „Hassen Sie Juden?“ Die Frage ist legitim, sie kann und muss auch an die Protestierenden gestellt werden, wie sie an alle Diskursteilnehmenden in Deutschland gerade gestellt werden kann (genau wie alle anderen Fragen: Hassen Sie Araber oder PalästinenserInnen? Hassen Sie protestierende Menschen? Sind sie für Abschiebung oder Exmatrikulation von Protestierenden? Sind sie für weitere Waffenlieferungen und humanitäre Hilfe? Und so weiter). Die Frage ist jedoch in der gegenwärtigen Situation ausschließlich eine Prüfungsfrage: wird sie nicht zufriedenstellend beantwortet, bedeutet es Polizeieinsatz, Veranstaltungsverbot, Protestverbot, Äußerungseinschränkung, oftmals präventiv. Denn selten wird auf eine Antwort gewartet, wie die Bildungsministerin auf Twitter zu Protokoll gab, nachdem das Protestcamp bereits abgeräumt war: man müsse sich klar „gegen Israel- und Judenhass“ stellen, als ob das Camp nicht gerade mit Gewalt abgeräumt worden wäre. Vorher (und nachher) geht gar nichts.
Die deutsche Verhandlung der Proteste gegen den Krieg, gegen einen zumindest möglichen Völkermord, gegen eine andauernde Katastrophe in Israel/Gaza, gegen zivile Opfer oder auch gegen terroristische Gruppierungen – der Verhandlungsraum ist dominiert von institutionellen Reflexen. Von radikaler Verkürzung und von Sprüngen, die die Wunschmaschine Staatsräson ermöglicht: From the River = Hamas. Ceasefire = Israelhass. Keine Erwähnung der Hamas = Relativierung des Terrors. Kein Dialog mit der Presse = Antisemitismus. Forderung nach Dialog statt Polizei = Ablehnung der Verfassung.
Der gegenwärtige staatsräsonierende Reflex, der allgemein das Handeln von Institutionen bestimmt, fordert Eindeutigkeit, wo er sie selbst entweder nicht oder nur mittels Staatsgewalt herstellen kann. Er fordert klare Positionierung dort, wo er Positionierung präventiv verhindert. Er fordert Dialogbereitschaft, wo die Polizei schon mit der Räumung beginnt. Er fordert Dialog, wo er Dialog verhindert. Vielleicht ist es eher ein Krampf als ein Reflex.
Es ist in der Tat eine Frage, die sich protestierende Menschen gerade stellen müssen: mit wem kann man überhaupt sprechen, mit wem ist „Dialog“ möglich? Die Form des Protest-Camps ist nicht zufällig gewählt, denn sie geht zwei Bedürfnissen nach: nach einer dauerhaften (auch störenden) Präsenz, und nach einem Raum der Diskussion und des Austauschs untereinander. Es ist der Wunsch nach einem Ort, den es zur Zeit nicht gibt, dessen Möglichkeit verhindert wird. Bevor es kurzerhand abgeräumt wurde, war an einem Zelt vor der FU ein Schild angebracht, das ein Vortrags-, Diskussions- und Filmprogramm des Camps ankündigte. Man sollte meiner Ansicht durchaus abwarten, ob und was bei solchen Camps herauskommt.
Sicher wird Unduldbares dabei sein, vielleicht aber auch Ideen zum Schutz jüdischer (oder auch palästinensischer) Studierender, deren Sicherheit auf dem Campus in keinem Fall durch Polizeipräsenz und Räumungsmaßnahmen erhöht wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit würden solche Camps aber eines hervorbringen: derzeit ausgeschlossene Gegenpositionen zur institutionalisierten Staatsräson. Denn das sollte nicht vergessen werden: jeder Protest in Deutschland enthält auch einen Protest gegen deutsche Politik und Zustände. Die präventiv-zugreifende Staatsräson macht diese Kritik unsichtbar, indem sie sich selbst hinter der Reflexfrage nach „Israel- und Judenhass“ versteckt. Das bedeutet nicht, dass es letztere nicht gäbe – es heißt vielmehr, dass die Staatsräson diese mitnichten bekämpft, sondern im Ergebnis vor allem eines tut: die Staatsräson unterdrückt den Protest gegen sich selbst. Sie ist in der derzeitigen innerdeutschen Ausformung vor allem eine Lizenz zur Aufkündigung von irgendeinem Dialog. Sie ist ein Selbstgespräch.
Also nochmal, DLF:
„Muss es Platz geben für Judenhass an deutschen Universitäten?“
„Nein, natürlich nicht“.
Danke für den “Dialog”.
Der Kubicki in diesem Video und der Kubicki von heute sind verschieden und irgendwie auch nicht https://www.instagram.com/reel/C8HCT0RIAP8/
"From the River = Hamas. Ceasefire = Israelhass. Keine Erwähnung der Hamas = Relativierung des Terrors. Kein Dialog mit der Presse = Antisemitismus. Forderung nach Dialog statt Polizei = Ablehnung der Verfassung"
Sehr gut auf den Punkt gebracht. @DieAusnahmeUndDieRegel