SIDE A
"Erzählen ist Krieg, besonders wenn man sich nichts ausdenken will" (47). Ein Jahrhundertsatz, der mir als Beweis völlig ausreicht, dass sie schon alles gewusst hat. Sie wusste, obwohl Enis Maci ihr Buch vor dem sogenannten Attentat von Halle schrieb. Der Angriff auf die Synagoge und die über 50 Menschen darin war 2019. Zwei Menschen wurden erschossen, nicht in der Synagoge, sondern eine Frau auf der Strasse davor, ein weiterer Mann im Döner Restaurant ein paar hundert Meter weiter, zur Musik von Animes und mit Livestream auf Twitch. Jana Lange, Kevin Schwarze. Ein weiterer Mann wurde mit dem Auto bei der Verfolgungsjagd lebensgefährlich verletzt. Abdi Raxmaan Aftax. Halle machte deutlich, was Enis schon wusste, nämlich dass man zum Morden von der Synagoge mit der rustikalen Holztür eben einfach weiterfährt zum Döner, wenn man in den ethnonationalistischen Befreiungskampf zieht als junger Mörder aus Eisleben, der sich im Internet schlau oder radikal oder überzeugt gemacht hat und sonst nirgendwo verdächtig war, einfach ein Sonderling ein bischen, kennen viele. Im Gerichtsprozess gegen den Mörder, auch er hat einen Namen, Stephan Balliett, wußte der Mann vom Bundeskriminalamt dann nicht was "Der große Austausch" eigentlich heißt, oder was das ZOG (Zionist Occupying Government) sein sollte, das der junge Mörder laut seinem Manifest bekämpfen wollte oder bekämpft hat, als er von den „Ursachen“ (jüdische Menschen) zu den „Symptomen“ (Muslime, Schwarze, MigrantInnen, Homosexuelle, Linke, Menschen, die Döner essen, usw.) ging, so sagte er in der Gerichtsverhandlung, in der am siebten Tag die Richterin anmerkte „den ideologischen Hintergründen der Tat solle man nicht zu viel Raum geben“. Ihr Name ist Ursula Mertens, Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg.
Der BKAler wusste es nicht, und der Verfassungsschutz wusste es auch nicht, und die Richterin wollte es nicht genauer wissen, weil die konkrete Analyse von Faschismus, oder von Social Media, oder Radikalisierung, oder Hassrede, oder der realen und virtuellen Lebenswelt, in der sich Gegenwartsfaschisten und -faschistinnen bewegen, die Analyse der Sensibilität und Ästhetik, die sie miteinander teilen, denn Faschismus im Social Media Zeitalter heißt eine Sensibilität entfalten und sie alltäglich oder mörderisch anwenden – die konkrete Analyse all dieser Dinge findet in Deutschland (nachfolgend wo es geht D) nicht bei der Polizei, beim Verfassungsschutz, vor Gericht oder in der Universität statt. Sie findet statt in Essays, die bei Suhrkamp erschienen sind, die einige vielleicht zu Weihnachten verschenken, weil der Klappentext progressive Migrantenprosa verspricht und die JurorInnen von Literaturpreisen "die Direktheit und Rustikalität des Ausdrucks" loben, "eine intellektuelle Spitzenleistung, mit Bildung" und so weiter. Niemandem scheint es besonders aufzufallen, aber die Worte zum SCHUTZ der VERFASSUNG, meiner und eurer Verfassung, geistig und rechtlich und vieles mehr, diese Worte – und „der Glaube an das Wort“ (67) – liegen da auf der Auslage im Buchladen, wenn gerade wieder Multikultiwochen sind. Enis Maci, Eiscafé Europa, es steht auf dem Umschlag. Sie hat sich nichts ausgedacht, sie hat sich nichts ausdenken wollen.
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Ich danke Rupert Gaderer und Vanessa Grömke sehr für die Verbindung, die sie damals gefühlt haben, denn sie hatten mich zum Workshop „Hassrede, Shitstorm und Darstellungspolitiken virtueller Affekte“ eingeladen. Immerhin als Keynote, und ich sollte etwas zu Enis Macis Essay "to blend into something (Nachruf)" aus diesem Buch sagen und zu "Rechten Gefühlen" und digitalem Faschismus als Teil virtueller Lebenswelten, weil die beiden da eine Verbindung gesehen haben. Ich habe das auch gemacht, mein Buch heißt ja so und Enis Macis Text hatte ich durch Gabriele Dietze kennengelernt, vielleicht etwas spät, aber immerhin. Mein Vortrag im Dezember-Bochum war dann sehr mündlich, sehr eine Suche nach Tonalität, Gesten und Begrifflichkeiten, nach „Prothesenbegriffen“, wie Enis auf Seite 153 schreibt. Die sind nötig, wenn eine Beschädigung passiert ist, aus der Beschädigung kommt notwendig die Prothese.
Ich kann den Vortrag nicht einfach abdrucken, es waren auch zuviele Bilder und Videos, mit denen ich das Publikum überfordern wollte aus Prinzip, denn das alles ist auch überfordernd, eben Beschädigung. Der Vortrag war performativ, so wie „Erzählen ist Krieg“ und analytisch berichten über diesen Kriegszustand ist eben viel, zuviel. Das Gefühl des „Zuviel“, die Erschöpfung ist mir wichtig, auch für die Universität und ihre Zeit der Analyse, die ja vorgibt, ewig zu sein, obwohl sie es nicht ist, der angekündigten Wissenschaftspolitik der AfD nach zu urteilen, oder auch FDP oder DFG, alles nur geborgte Zeit. Ich muss also etwas anderes schreiben, denn damals im Dezember 2022 ging es darum, im Vortrag neue Sprachen für den Gegenwartsfaschismus auszuprobieren, weil die vorhandenen Beschreibungsmodi der Wissenschaft so verarmt sind, so gar nicht die Erschöpfung preisgeben wollen, die spürbar ist weil sie gemacht wird, die materiell da ist und die Reflexion begrenzt und auch verhindert. Ich habe das damals „Austeritätspolitik der analytischen Sprachen“ genannt, eine gewollte Verarmung des Sprechens über Faschismus und auch über Medien, und den katastrophalen Zusammenfall der beiden, der nach wie vor ungeklärt ist. Arm sein heißt erschöpft sein.
Die Sprache, die ich dann mitbrachte nach Bochum war eher ein Versuch, Echopunkte auf Sätze von Enis Maci zu setzen, Enis Maci in Dub, einen Widerhall, eine Dub-Version wie King Tubby sie erfunden hat als Instrument der Forschung. Dub ist Durcharbeiten von Kompositionen, um in Wiederholungen und Echos neue Rhythmen und Atmosphären wachsen zu lassen. Make the past grow new ghosts. Das soll dieser Text hier, denn will ich das ernst nehmen, was Enis Maci geschrieben hat und was außer ihr eigentlich niemand wirklich gesagt oder verstanden hat, nämlich dass man "an der Aufgabe wächst" (67), die Rechten zu beschreiben. Das ist brutal aber ich sehe das auch so, das stimmt in sehr grundlegender Weise und deshalb wird mein Beitrag hier zu „Hassrede“ etwas anderes werden, hoffentlich ein Gegenteil der Rede, die Hass ist – ein Love Letter to Enis Macis Text „to blend into something (Nachruf)“ (63-120).
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Klaus Theweleit hat mal etwas ähnliches und doch anderes gesagt: „…über den Faschismus sind die Faschisten zu wenig befragt worden“ und die sogenannten Experten zuviel, aber Beschreiben und Befragen sind eben zwei grundverschiedene Dinge, gerade wenn die FaschistInnen nicht viel anderes machen als sich den ganzen Tag gegenseitig und füreinander zu befragen und zu erklären, was sie sind und was sie wollen. Man kann das überall lesen mittlerweile, im Internet und in Büchern und Zeitungen. Man hat sie nicht beschrieben, die FaschistInnen, sondern den Experten zugehört mit ihren Statistiken und den Journalisten mit ihren alarmierenden Wetterberichten. Ich habe das vermittelten Faschismus genannt, eine gewollte Verarmung der konkreten politischen Bewegungen namens „Neofaschismus“ auf Zahlen: hier 8%, da 25% laut InfraTest dimap, da 43 Millionen verschwörungstheoretische Nachrichten auf Telegram, algorithmisch ausgewertet vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS). In Thüringen dieser Tage sind es 31,5% oder auch mehr, je nachdem wen man fragt und wer wie alarmiert oder erfreut ist über das gewachsene Datenobjekt „Rechtsruck“. Beide Emotionen, der Alarm und die Freude, beide machen die 31,5% oder die anderen Zahlen realer. Eine Abstraktion wird instrumentell real gemacht, nichts anderes machen die FaschistInnen auch, wenn sie mit Migrationsstatistiken oder Geburtenraten wedeln, damit sie über Menschen hinwegsehen können, damit sie sich unter „Volk“ oder „Großer Austausch“ etwas Realweltliches vorstellen können, wegen dem man dann etwas tun muss, in Halle oder im Bundestag oder in den sozialen Medien.
Enis ist eine der wenigen, die etwas anderes gesagt haben als Alarm oder Freude, nämlich dass man die Rechten nicht als überraschende Prozente oder zahlenmäßig erdrückende Ansammlung von Hassposts oder WählerInnen sehen muss, sondern in unserer Nähe: „Sie erinnert mich sehr genau an verschiedene Mädchen, die ich gehasst oder geliebt habe“ schreibt Enis Maci auf Seite 116 über Melanie Schmitz von der Identitären Bewegung. Rechte sind Menschen, die wir kannten oder noch kennen, auch wenn sie Häuser anzünden oder jeden Tag auf Twitter einen Völkermord oder Remigration fordern, oder die Wörter nur mal ausprobieren, die dann Hate Speech oder rechtsextremes Parteiprogramm sind oder werden. Wir haben ihnen vielleicht eine Zigarette gegeben, oder die Hausaufgaben abschreiben lassen, oder sind zusammen sprayen gegangen wie mein Freund Patrick mit SEAK Claus Winkler (Twitternazi); oder raven gegangen wie mein Freund Aleks mit Roger Beckamp (AfD Abgeordneter); oder wir haben am selben Ort beim selben Professor studiert wie ich und Erik Ahrens (Identitärer, PR-Berater von Maximilian Krah, AfD). Man wächst in D nicht mit Prozenten auf, sondern mit Leuten, die man gehasst hat, geliebt hat, irgendwas dazwischen. Enis Maci beschreibt die Rechten gut, weil sie keine Daten beschreibt wie die Universität oder der VS es tun. Sie macht kein Monitoring Analyse Strategie, thank god. Enis beschreibt Menschen, die unter anderem Daten sein wollen, die eine Abstraktion wie „das Volk“ oder „die schweigende Mehrheit“ real werden lassen wollen. Datenbelebung, das ist mehr oder weniger die Tätigkeit von Björn Höcke, Beschwörer von Geistern und Daten. Enis Maci beschreibt diese Arbeit der Leute, die sich einen Gefühlsraum und eine körperliche Sensibilität dafür bauen, damit sie das hier sein können: die harten 8% oder die widerständigen 31,5%, „das Volk“ oder „der patriotische Widerstand“. FaschistInnen sind Menschen, die also in Enis unglaublich guten Worten „eine große Unsicherheit mit großer Sicherheit“ (116) tragen: „Schmitz beim Hantelnheben. Ihre Schlüsselbeine. Ihre Vintagekleider. Ihr veganer Kuchen“ (116). Das ist unglaublich gut gesehen und gesagt.
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"Wer den Engpaß passiert hat, sieht die Welt nicht in anderen Farben – er sieht sie überhaupt erst in Farben. Solange er sie durch die universalistische Brille sah, war alles grau, denn kein Ding war es selber, sondern es war auf einen abstrakten Hintergrund bezogen. Es deutet nur auf etwas hin – es war nicht." Das schrieb anscheinend Armin Mohler, Chefarchitekt der konservativen Revolution und der Neuen Rechten in D, aber ich weiß es nicht genau, denn ich lese diesen Auszug aus "Die nominalistische Wende" bei einem Twitter Account namens Der Fädenzieher. Der Account arbeitet sich seit 2023 an einer profaschistischen Philosophiehistorie ab, drei Posts pro Tag und ich habe keine Ahnung wie verlässlich die Zitate sind. Es ist aber auch egal, denn er stellt sich damit als schlau und belesen und widerständig dar, so wie die rechten Frauen bei Enis Maci eben „hot und sweet und schlau sind“ (84). Der Fädenzieher macht dieselbe Arbeit, die Alina Wychera macht in Enis Text, wenn die identitäre Aktivistin Sylvia Plath liest (Daddy), oder Zitate von James Baldwin für die identitäre Sache auswählt und auf Tumblr postet. Das muss um 2016 herum gewesen sein, wo Tumblr noch wichtig war, mit Hashtags wie #WhiteGirl und #EuropeanAwakening und so weiter, die Hashtags haben die Plattform überdauert, auch das sind Echoeffekte.
Enis Maci hat nachvollzogen, wie die Rechten der Welt eine Farbe geben, wie sie durch die Schneise gehen, den Engpaß durchschreiten, was sie Redpilling nennen oder nationales Erwachen, oder „Steh gerade! Deutsche Männer gendern nicht!“ wie Maximilian Krah heute auf TikTok bellt in Zehnsekundenvideos, kuratiert von meinem Kommilitonen Erik. Haltungswechsel, Optikwechsel. Rechte stellen in Serie solche „Schwellenmomente“ her, das habe ich in meinem Buch geschrieben und genau dafür sind digitale Medien da, um zu beschwören, dass da „etwas ist“ (Mohler), wo nur farblose Abstraktion war. Im Vortrag hatte ich das Video „I AM MAD!!“ von CopperCab gezeigt, um das zu erläutern, um zu zeigen, wie das zum Beispiel für adoleszente US-Amerikaner um 2011 herum geht. Man sollte sich das anschauen so lange es noch da ist, denn das alte Ding aus der Ursuppe der Männliche-Monolog-Kulturen auf Youtube ist für mich eine Arbeitsdefinition von dem was Social Media als Praxis sind. Nicht Kommunikation, nicht soziale Struktur oder Strukturierung, nicht representation, sondern vor allem „the insertion of affect into data networks“. Das hatte ich gesagt im Vortrag, unvermittelt auf Englisch, weil mir das in der Improvisation näher ist als das Deutsche. Übersetzbar vielleicht so: Soziale Medien sind die dauernde und auch vergebliche Arbeit, diese digitalen Maschinen in die Nähe des Lebendigen zu bringen UND gleichzeitig das Lebendige, die Energie, die Dingwelt, das Soziale, die Atmosphäre und alles andere in die Plattformökonomien und ihre Bedingungen hineinzutrichtern. Diese Arbeit kann, unter bestimmten Vorzeichen, eine Mohlersche Bewegung sein, es ist sogar wahrscheinlich, dass es eine Mohlersche Bewegung wird, also das Durchschreiten eines Engpasses: Dort soll etwas sein, das Ding, der Mensch, das Volk, es soll dort es selber sein, wo nur Abstraktion war, wo nichts war wie es selbst, nur der angebliche Universalismus der Nullen und Einsen. Auch Der Fädenzieher und Alina Wychera wollen das – sein wie sie selbst sind – und zitieren sich von X nach Y, um „das Volk zu machen“ im Internet. Pflöcke einschlagen in der digitalen Wüste, das ist immerhin Orientierung.
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Das ist eine alte Idee, die achsofarblose Welt zu verlassen, Weiß oder Deutsch oder Volk wieder zu etwas farbigem zu machen, es zu allem zu machen, was man so braucht um jemand zu sein, zum Beispiel „Deutsch“ in den neuen Medien der Ortlosigkeit. Das ist auch ein Meme, das mir immer wieder begegnet: Es stellt die Varianten in Haar- und Augenfarben (blondbraunrot und blaugraugrün) der sogenannten "europäischen" Menschen den angeblich einheitlich schwarzen Haaren und braunen Augen der „Ausländer“ gegenüber. Whiteness is true diversity steht dann darüber oder irgendein Mist, denn das ist das rechte Gefühl und das ist die Fähigkeit zu diesem Gefühl, mit der die sozialen Medien uns ausstatten: das Eigene als bunte und variantenreiche Welt zu beweisen und damit das Andere als „falsche Ideologie der Diversität“, die alles gleich macht und das Eigene auslöscht. Das Meme hilft, dafür eine Sensibilität zu entwickeln, für die Materialität und Anmutung des "Volks" und seines Körpers.
Die verkörperte Sensibilität hat Enis Maci beschrieben mit Wycheras hängenden Schultern und der Passage über MakeUp und Eyeliner, denn FaschistInnen und solche die es werden wollen bewegen sich, wie fast alle, tastend durch „die Sprache der Drogerien, der p2-Regale, der Mangamädchen, der Badezimmer ohne Tageslicht, der unspektakulären Normalität“ (92). Faschismus ist aus Normalität gemacht, und genau das bekommt die Extremismusforschung in ihren Analysen nicht hin, denn sie will diese FaschistInnen immer zurückbinden an „die polarisierte Gesellschaft“ oder den „Libertären Autoritarismus“ – alles abstrakte Zeichnungen und Schemata, denen die Rechten gerade entkommen wollen und entkommen sind, jeden Tag aufs neue, wenn sie Armin Das Ding wird wieder es selbst Mohler posten oder Pepe the Frog Bilder, oder eben Farbtabellen, die die Augen von Menschen darstellen und diese unterscheiden wollen nach Farbe, nach Farbigkeit, und dann nach Vitalität, und dann nach Recht auf Vitalität, also Recht auf Leben, und dann steht mein Lebensrecht über dem Lebensrecht der Anderen, denn meine braunen Augen sollen mehr Leben bekommen als die braunen Augen der Anderen, geschminkt und ungeschminkt.
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Enis Text "to blend into something (Nachruf)" ist 2018 erschienen, bei Suhrkamp of all places, aber in wievielen Jahren vorher hat sie das alles gesammelt und aufgeschrieben? Ich weiß es nicht, soviel ist schon da, sovieles war ihr deutlich und präsent. Auch diesen banalen Krempel, aus dem sich das Rechte und der Faschismus zusammensetzen und den ich für überaus wichtig halte, um die 31,5% oder sonstwas zu erklären. Den Kleinkram hat sie notiert und es ist außergewöhnlich weitsichtig gewesen, dass die Beschreibung nicht erst bei „Remigration“ ansetzt oder bei dem was Riefenstahl heute abfilmen wollen würde, sondern beim Kleinsten, den minutae des Kulturkampfs, die der Treibstoff des Internets sind und die Enis aufgelesen hat: „Jens Spahn schilt Nacktheitsverweigerer" steht auf Seite 64 ihres Buches, das irgendwer als "Post-Internet-Literatur" eingeordnet hat auf dem Rückumschlag, „ein bischen Sido, ein bischen Alexander Kluge“, wie eine Laudatorin des Literaturpreis Ruhr sagte. 2021 steht dasselbe über Spahn und die Nacktheitsverweigerer auf Queer.de, und 2023 im Dezember gibt es die Meldung über Jens Spahn wieder als kurzen Shitstorm auf Twitter, denn der CDU-Politiker hat sich in den letzten sieben Jahren anscheinend in Serie über beunterhoste türkische Männer in der Dusche seines Fitnessstudios echauffiert. Die Ausländer in Unterhosen stören ihn nachhaltig in seiner deutschen Nacktheit, und ein Shitstorm oder eine Politikmeldung kann jederzeit losgehen, egal wer wann was zu dem gesagt hat, was manchmal "Überfremdung" und ein anderes Mal "Leitkultur" heißt und eben auch die Frage von nackt duschen oder mit Unterhose duschen zu enthalten scheint. Und jetzt sage mir, liebe Literaturwissenschaft, wer oder was soll diese Post-Internet-Literatur sein, die Enis Maci angeblich vertreten hat, wenn Politik, Öffentlichkeit, die kognitiven und affektiven Bahnungen beim Brötchenkaufen, Zähneputzen und Duschen allesamt "Post-Internet" sind? Der Rechtspopulismus und der militarisierte Rassismus sind so sehr in der Dusche im Gym, das heißt im Banalen verortet, wie es die Sozialen Medien eben zulassen oder vielmehr erfordern. Die Pipeline von der leichten Irritation nach dem Workout zum Tweet zum Leitartikel zum Gesetzesentwurf, das alles ist genauso "Post-Internet", da könnt ihr mir erzählen was ihr wollt.
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Enis Reihe geht nach Spahns Nudismusforderung unter der Dusche natürlich weiter, sie schreibt einen Jahresrückblick, der für jedes deutsche Jahr seit mindestens 2015 gelten kann: "Seehofer … Flüchtlinge, Schande, Blut, Boden, Özil, Boateng, Steuervermeidung, Homoehe, Abtreibung, Fundis, Grenzen, Heimat“ (64), das ist Enis Macis Reihe. 2023 oder 2024 sind die Erregungspunkte leicht angepasst, je nachdem welches Racket welchen Triggerpunkt schon durchgespielt hat: "Aiwanger/Söder, Flüchtlinge, Schande, Blut, Boden, Ali Utlu, Ricarda Lang, Heizungsgesetz, Selbstbestimmungsgesetz, feministische Außenpolitik, Islamismus/Wokismus, Remigration" und so weiter. Solche Reihen finden sich jeden Tag in den sogenannten Trends von Twitter, algorithmische Choräle sich ausdifferenzierter Faschismen als Alltagskultur und Dauerwerbesendung. Über die Rechten, die FaschistInnen schreiben, heißt über dieses Ritornell schreiben: Die gleichen Sprüche, die gleichen Erweckungsmomente, die gleichen Reizpunkte und Verdreher, heute AfD, morgen NIUS, übermorgen 8Chan und AfD Baden-Württemberg und wieder zurück, und dann retweeted Erika Steinbach die Junge Freiheit, die auf Ulf Poschardt reagiert, der was gelesen hat, was einer von der AfD gepostet hat. Ein Ritornell, das wissenschaftlich verbrämt „die Aufmerksamkeitsökonomie“ genannt wird, gefühlt ein Malstrom aus „unpassenden Allianzen“ (S. 91). Auf Twitter heute tauscht sich ein Fake-Georg Restle-Account (rechte Camouflage) mit einem Fake-Karl Lauterbach-Account (rechte Camouflage) aus, über die Meldung von NIUS (rechte Camouflage), Martin Sellner (uncamoufliert Rechts) hätte Einreiseverbot in D. #FreeSellner, #KeinSellnerIstIllegal, #IchVersteckeMartinSellnerAufMeinemDachboden. Ob das Ereignis „Einreiseverbot“ real ist oder nicht, das Kraftwerk der minderen Gefühle läuft, jeden Tag, jede Minute. Jodi Dean hat das irgendwo „the constant hum of low-level outrage“ genannt, genau der Treibstoff, der zum Post, zur Nachricht, zum Klick auf „Like“ oder „Share“ ausreicht. Ohne Anlass, mit Anlass, immer gleich, das ist ja die Beschädigung.
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Enis erzählt auch von dem "Mann, der in der Zeitung nur der 'der Iraker' hieß, der psychisch kranke 21-jährige Asylbewerber" (94), der in Sachsen von einer Bürgerwehr an einen Baum gefesselt wurde. Sie will sich nichts ausdenken, wenn sie davon erzählt und vor drei Tagen war es ein Mann, der in der Zeitung nur der „Messertürke“ genannt wurde, der eine psychische Störung hatte und selbst die Mannheimer Polizei rief, die ihn dann auf einem Parkplatz mit vier Schüssen getötet hat. Es war am Abend vor Weihnachten und ich will mir auch nichts ausdenken, denn ich kann es jetzt ein paar Wochen später nachlesen, sein Name war Ertekin Ö. und die Initiative 2. Mai klärt das allein und alleingelassen auf: „Ein erneuter Fall von tödlicher Polizeigewalt in Mannheim“, eine Liste von Namen steht dahinter. Die Leute auf Twitter schrieben dann über die Weihnachtstage, man sei halt selber Schuld, ohne Hemd und mit einem Küchenmesser in der Hand sich auf zehn Meter der Polizei zu nähern und sie hätten auch so gehandelt, wahrscheinlich, vielleicht, und wenn es ein 2nd Amendment gäbe in D oder man eine selbstgebaute Waffe hätte, wie der in Halle, dann wahrscheinlich hätte man auch.
Die Morde und Gewalttaten und Polizeieinsätze sind auch ein Ritornell, genau wie die Rufe nach ihnen im Netz, Hassrede ist ja auch Hassmache, der Ruf nach Taten, die nach der Rede getan werden und wurden in Serie. So wie der ostdeutsche NSU die westdeutschen Städte abgeklappert hat, um immer wieder denselben Ausländer auf verschiedene Art zu ermorden mit Nagelbombe und Verfassungsschutzpistole und Wohnmobil und Fluchtfahrrad, in einer Art Thüringscher BRD-Anschlusstournee aka „Dönermorde“ gesponsert von Verfassungschutz und Bild-Zeitung. Susann, mit der ich zusammenlebe und arbeite, sagt schon lange, dass der NSU Serienkiller waren mit einem modus operandi, und Serienkiller kommunizieren Begehren durch Morde, sie sind Kommunikationsagenturen per Mord. Die Forschungsstellen für Rechtsextremismus, nun ausgebaut aufgrund kritischer Gutachten zu den NSU-Ermittlungen, sollten analog zur forensischen Psychologie des FBI arbeiten, wie sie zum Beispiel in Silence of the Lambs (1991) erzählt wird, aber auf mindestens ein Viertel der in D Wahlberechtigen ausgerichtet, eher mehr. Die Idee kommt aus der Not, natürlich, aber so groß ist sie eben, die Spracharmut der Extremismusanalyse, die Sehnsucht nach endlich anderen Sprachen, so groß, dass ich sowas hier für plausibel und bedenkenswert halte: Agent Starling, was ist der modus operandi von denen, die eine rechtsextreme bis profaschistische Partei wählen, einen rassistischen Mord gut oder nachvollziehbar finden, eine Position als bürgerlich-liberal formulieren, die pro-Abschiebung und anti-NPD sein will? Wie Dr. Lector sagt: First principles, Clarice. Simplicity. Read Marcus Aurelius. Of each particular thing ask: What is it in itself? What is its nature? What does he do, this man you seek?
SIDE B
Martin Sellner auf jeden Fall, Neonazi seit den 1990ern und prominenter Ethnonationalist ab den 2000ern, macht dieser Tage, was seine Natur ist: er redet und agitiert. Enis Maci hatte damals extra nicht über den Identitären geschrieben, denn man musste ihn schon in den 2010er Jahren nicht suchen, so überaus präsent hatten die Medien ihn gemacht als Posterboy der Hipsternazis. Enis schaute lieber nach den Instagirls Melanie Schmitz und Alina Wychera, auch eine Art von female empowerment und Gegenmaßnahme, nicht immer dieselben Männerfressen wichtig zu schreiben. Der alternde Sellner hat dieser Tage ein Buch veröffentlicht, es heißt Regime Change von Rechts, Antaios natürlich, ein neues kommt nächsten Monat, Remigration: Ein Vorschlag. Für den Businesswechsel von Aktivist zu Autor macht er eine Buchtour, macht als Werbung für das gedruckte Ergebnis seiner Kommunikations- und Agitationsarbeit, für seinen Kram also. Mit dem Kram wird er dann eingeladen, es ist nicht weiter wichtig oder ungewöhnlich, aber er bekommt eine Einladung von einigen Pappnasen aus Politik und Wirtschaft, die sich vernetzen wollen. Alle haben Geld und es geht um Geld, daher trifft man sich im Hotel im schönen Potsdam, der Hotelbesitzer freut sich auch. Ein pensionierter Düsseldorfer Zahnarzt hat ausgerichtet, seit den 1980er Jahren in der rechtsextremen Szene aktiv, Wehrsportgruppen und Zahnersatz, unternehmerische Diversifikation oder Maul aufreissen.
Sellner tritt als Abendunterhaltung auf, als Werbeblock, der durch sein Gerede belegen soll, dass es den Pappnasen und Nazi-Zahnärzten um eine „Vision“ geht, also um Politik und die Zukunft des Landes oder Volkes, statt um Geld und Netzwerk. Die Pappnasen brauchen diesen Beleg, denn sie beanspruchen, dass sie das tun, von dem die anderen nur reden: „D den Deutschen, Ausländer raus“. Es ist nicht so wichtig, aber das sind eben die kleinen Dramaturgien, wenn Kapital und FaschistInnen sich treffen, um irgendwie aus der alten Parole eine neue Beschäftigung zu machen, wie jede Woche in Schnellroda oder seit den 1980er Jahren beim „Dienstagsgespräch“ in West-Berlin. Man trifft sich halt dauernd, und dann braucht man was zu tun, und für die Dramaturgie braucht es dann Buchautoren, die was verkaufen wollen und zugleich das „Visionäre“ spielen für diese saturierten Pappnasen, die bei CDU oder AfD arbeiten, Backwerk oder das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit organisieren, oder dem Verein Deutsche Sprache vorsitzen, oder pensionierte Zahnärzte sind, und die alle Abschiebung im großen Stil sagen wollen und machen wollen, so wie es der angebliche Kanzler Olaf Scholz Mitte Oktober auf einem Spiegel-Cover verkündet hatte, aber dann wohl nicht zufriedenstellend umsetzte. In Potsdam geht es um Geld, um Macht, um sich gegenseitig die Zähne zu zeigen und im Luxushotel abzuhängen mit dem coolen Österreicher aus der nicht mehr ganz jungen Jugendabteilung, denn die „Unique Selling Proposition der IB liegt, so heißt es, in ihrem Coolnessfaktor“, wie Enis Maci auf Seite 75 schrieb vor sechs Jahren schon. Vielleicht hat der Zahnarzt „mit den tönernen Zähnen“ (63) das bei ihr gelesen und sich so in die Idee zur Einladung des bereits ausgemusterten Jugendvertreters Sellner verbissen. Vielleicht, aber wahrscheinlich nicht, wer in D liest schon Enis Maci?
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Die schreibt unter anderem: „Zu Beginn war da eine Wut, eine Wut darüber, dass die Identitären verhandelt wurden mit derjenigen Sprache, die sie selbst für sich gewählt hatten, dass sie dargestellt wurden mit den Bildern, die sie selbst hergestellt hatten.“ (66). Sie schreibt das 2018 schon in der Vergangenheitsform, denn bereits damals waren Sellner und die anderen abgelegt, deplatformed und auch vorbestraft, Relikte des situationistischen Rebrandings der Neuen Rechten um 2012, hochgeschrieben von der Presse und dann passé. Enis Wut stand und steht noch immer am Anfang des Wachsens am Gegenstand „Gegenwartsfaschismus“, denn sie ist immer da, auch zum Beispiel wenn der Sellner Martin nach der sogenannten Correctiv-Recherche, veröffentlicht im Januar 2024 als Scoop des unabhängigen Investigativjournalismus, plötzlich als WUT „Mastermind der Deportationspläne“ der AfD bezeichnet wird, zum Remigrations-Himmler 2.0 ernannt wird von den Medien, zum brandgefährlichen Strategen eines „Angriffs auf die Demokratie“ wird, ein Angriff, der immer zuerst die angegriffen hat, die in dieser Demokratie per Mehrheitsentscheidung sowieso einen prekären, einen sowieso angegriffenen Status haben und zum Beispiel in Mannheim oder Halle erschossen werden und wurden. Wut, Wut am Anfang und am Ende.
Der Martin stellte die Thesen seines Buchs vor, auf private Einladung einer zahnärztlichen Interessengruppe hin, und ein furchtloses Investigativteam meinte, das abhören und von einem Kahn aus fotografieren zu müssen. Wut nicht über Sellner und die reichen Pappnasen, sondern über diese optischen (Teleobjektiv) und akustischen Tricks (Abhörprotokolle) des Journalismus aus D, der immer, immer, immer – strukturell und mit narzisstischer Absicht – vom „Ausländer Raus“ der Rechten genau soweit überrascht sein muss, dass er über das „D den Deutschen“ nicht nachdenken muss, was das überhaupt heißen soll, „Deutsch“. „Antwort eines Skinhead … Brecht und Einstein“, protokolliert Heiner Müller 1992, post-Hoyerswerda, hat jemand einen Gegenentwurf? Das wäre das Wachsen an der Aufgabe, dass auch diese Fragen mal und wieder gestellt würden statt einen „Geheimplan gegen Deutschland“ zu enthüllen, denn was wäre denn dieses D gegen das da geplant wurde, und das unterschieden wäre vom anderen D dieser Zahnärzte, Brötchenverkäufer und WerteUnionisten. Dann wäre es vielleicht ein Wachsen, denn man müsste Enis Maci recht geben, und auch den Rechten müsste man Recht geben, dass vieles an ihnen eine Fabrikation der Bürgerlichen ist, eine Enthüllung des Unverhüllten á la Schtonk!, eine gruselige Nazi-Unterhaltung im Schloss am Wannsee, die vor allem eins sichtbar macht: das Begehren nach Nazigrusel, damit man dann zugleich Abschiebung wählen und Rechtsextremismus verurteilen kann, zum Beispiel in der wohligen Adaption der Recherche im Berliner Ensemble, nur wenige Wochen nach dem Scoop schon auf der Bühne am Schiffbauerdamm. Das ist Theatertod, wenn Brechts Haus den Arturo Ui absetzt, um längst publizierte Abschiebewünsche als szenische Lesung oder Beschwörung darzubieten. Ayşe Güvendiren hat dazu geschrieben, dass das Bürgertum sich am Nazitum wohlig erruselt, denn da bleibt man auch unter sich, unter Deutschen mit Theaterabonnement, die „unsere Deportation … zu eurer Unterhaltung“ genießen.
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„An der Aufgabe gewachsen, das heißt nicht, dass ein einziger Journalist, der an der Produktion dieses Scheinriesen beteiligt war, Verantwortung übernommen hätte, und im Nachhinein, nach dem Fallen der letzten Masken, zur Folgeberichterstattung geschritten wäre“ (67). KeinE JournalistIn wurde zur Rechenschaft gezogen für das Hochschreiben der Rechten der letzten 10 Jahre, oder wie kann ich diese Stelle bei Enis Maci wiedergeben und als Echo über die Demonstrationen von Hundertausenden legen, die nach der sogenannten Recherche auf die Strassen gingen und nur wenig bunte Plakate und vor allem keine Forderungen dabei hatten? Wer legt Rechenschaft ab für die deutsche Umformatierung des Faschismus zur Prozentrechnung oder zur schockierenden Enthüllung per Teleobjektiv? Wenig bis nichts wurde bis heute gefordert oder übernommen an Verantwortung.
Und weil niemand die Verantwortung übernommen hat, ist aus dem Scheinriesen ein Riese geworden, ein Bergmassiv, das von Ferne genauso groß aussieht wie es von Nahem erdrückt die Menschen, die es aus dem Deutschsein, oder generell aus dem Hier-Sein ausschließen möchte, auf deren Rücken es gewachsen ist. Scheinriese, das optische Phänomen von Michael Ende, wird gerne genommen, um dieses komische Verhältnis der Normalen zu den Rechten als Selbstvergewisserung zu bebildern: Wenn man nah ran geht, sind sie gar nicht mehr furchteinflössend, dann sind sie harmlos oder besorgte Bürger oder eben der freundliche und dumme Herr Tur Tur aus Lummerland, entzaubert im Sommerinterview. Die Faschismusbearbeitung in D ist immer noch Terrain der optischen Illusionen und der Augsburger Puppenkiste, ob Correctiv, Berliner Ensemble oder Talk Show. Nach Correctiv.org geht es wie am Schürchen, denn alle ackern intuitiv daran mit, eine Illusion ihrer medialen Verwirklichung zuzuführen, es braucht daher nur ein paar Tage für das alles: „Remigration“ wird zum Unwort des Jahres, Chrupalla sitzt bei Markus Lanz, Weidel hält Brandrede („Sie hassen D!“), Sellner macht Livestream, das Remigrations-Buch kommt durch Vorbestellungen auf Platz Eins der Amazon-Charts, und der Antaios Verlag kündigt in einem Power Move die Zusammenarbeit mit dem Versandmonopolisten auf. Kauft deutsche Bücher beim deutschen Verlag.
Der Geheimplan „Remigration“, aufgedeckt 2024 von couragierten JournalistInnen, Hunderttausende schockiert auf der Strasse – der Plan steht bei Enis Maci (Suhrkamp, 2018) auf Seite 95 und auf Seite 109, mitsamt den anderen Plänen – Remigration, Grenzen hoch und Schotten dicht, Reconquista Europa, Je suis Charlie Martell, Deutschland den Deutschen Ausländer raus. Ich bin jetzt, Februar 2024, baff was die sogenannten Deutschen angeht. Da steht alles bei Enis und hat Literaturpreise bekommen und heute findet man es nochmal neu heraus und demonstriert gegen, gegen was eigentlich, gegen den „Geheimplan“ im Potsdamer Hotel oder gegen die „authentische Stimme aus dem Ruhrgebiet“, die das schon 2018 berichtet hat in ihrer „authentischen Prosa aus der multikulturellen Erfahrung des Ruhrgebiets“, wie die JurorInnen das nennen? Das völlig Banale und Offene des Faschismus wird enthüllt und mythologisiert, so wie Faschismustheoretikerinnen aus dem Ruhrgebiet prämiert und dann (deswegen) nicht gehört werden, damit der Protest gegen Die falsche Abschiebepolitik etwas Heroisches bekommt, ein heroisches richtiges Volk, das nun gegen die FaschistInnen vor das Bundeskanzleramt zieht, und dann schickt der Bundespräsident noch seine antifaschistischen Videogrüße hinterher wie ein Bekennervideo. Ich könnte das ewig so weiter schreiben, denn es ist alles das, was Enis Maci auf Seite 83 unnachahmlich die „Semantik des Angenehmen“ nennt, in der man sich eingerichtet hat und nicht auffallen muss, in der man wohnt, wenn man in D wohnt und da wohne ich. To blend into something, die Formulierung hat Reisszähne.
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“Die mediale Auseinandersetzung mit den Akteurinnen der sogenannten Neuen Rechten, die eigentlich eine Neue Neue Rechte ist, steht in keinem Verhältnis zur Zahl ihrer Unterstützer. Noch nicht. Die Mitte, die ja kein Ort ist, sondern eine verhältnismäßige Distanz zu den sogenannten Rändern bezeichnet, verschiebt sich längst" (64). Zuletzt das noch, immerhin eine Zeitangabe in Enis Macis visionärem Text, eine Markierung, wo das was sie geleistet hat ein Zeitdokument ist und nun vielleicht ausgeschöpft sein kann, vergangen sein kann. Die Mitte verschiebt sich da in 2018 und es gibt ein „noch nicht" bei Enis Maci. Auch ein Echomoment, der nachklingt im heute, weil alle in den letzten drei Monaten von „Nie wieder ist jetzt“ reden, diese seltsame wie charakteristisch deutsche Zeitverdrehung. Das „Noch nicht“ scheint vorbei, alle reden zumindest davon und machen große Demonstrationen um nichts zu fordern von der Politik, die immer noch den „ideologischen Hintergründen […] nicht zu viel Raum geben“ will.
Wo wir gerade jetzt also stehen, Februar 2024, ob bei Neue Rechte oder Neue Neue Rechte oder Neue Neue Neue Rechte, alles Echo, alles Dub – es ist in der Verhandlung und die Meinungen sind verschieden: Baden-Württemberg gründet das erste universitäre Institut für Rechtsextremismusforschung mit 1,2 Millionen pro Jahr, in Sachsen liegen die Umfragewerte für die AfD bei 37%, 100.000 machen ein Lichtermeer gegen Rechts in München, sie halten ihre Handybildschirme in den Abendhimmel, Wir sind das Volk. Aber das sind wieder Zahlen, die nicht viel bedeuten, weil sie die Differenz Neue und Neue Neue nicht berühren, weil sie das „Noch Nicht“ auch nicht zum „Jetzt“ werden lassen, das KÖNNEN WIR NUR SELBER TUN, unter anderem mit Worten. Für die Rechten ist der Schritt von „neu“ zu „neuneu“ nur die tausendfache Gelegenheit, Innovation zu signalisieren, wo keine ist – "Repression schafft Innovation" schreibt Wilhelm Heitmeyer – und sie können sich und uns vorspielen, dass sie sich häuten, ausdifferenzieren, distanzieren, weiterentwickeln, „hin zur Mitte orientieren“, das "Overtonfenster verschieben“, blablabla. Sie werden es weiter tun, soviel ist deutlich, das kann man ihnen auch nicht verbieten.
Die Innovationssimulation ist langweilig und doch suchterzeugend und dafür bekommen sie, obwohl Enis das 2018 schon kritisiert hat, auch 2024 die größtmögliche mediale Begleitung. Noch mehr heute wahrscheinlich als damals, denn zusätzlich zur normalen Dauerverstärkung durch alarmierte Mitte und dumme JournalistInnen haben sie eigene Medienpower ausgebaut: Nicht nur in der FAZ, oder im Suhrkamp Verlag, auch bei NIUS oder Tichy, oder Kontrafunk oder sonstwo in den 1000 Media Rackets, die sie sich gebastelt haben und die viele nachgebastelt haben, weil das lukrativ ist und alle Augen im Internet genau nach sowas suchen, nach dauernden Neuformulierungen von „D den Deutschen, Ausländer raus! Folgt mir auf TikTok!“ Die unique selling proposition der Identitären ist längst nicht mehr unique, viele sind in den Fascist Stock Exchange eingestiegen und erzielen ihre Renditen.
Enis "noch nicht" kann ein Zeitzeichen sein, ich wollte darauf einen Hinweis geben und hatte im Vortrag Tweets von Elon Musk gezeigt, in denen er mit "88" spielt und sonstigen Ikonografien nationalistischer Erneuerung, denn ich weiß nicht ob das "noch nicht" oder das „Nie Wieder“ haltbar sind, wenn plattformbesitzende Milliardäre die Resignifizierungsübungen der Rechten nachholen zur Gewinnsteigerung, oder wenn die Identitäre Bewegung sich nach 2018 und der Einstufung als „gesichert rechtsextrem“ in über 25 Einzelmarken und Unterbrands aufgesplittet hat, von der Klamottenmarke bis zu Verlag und Kulturort. Ich habe dazu ein Schaubild, aber was erklärt das? Aufsplitterung der rechtsextremen Szene, sagt der Verfassungsschutz; ein diversifiziertes Portfolio, sagen AufmerksamkeitsökonomInnen; ein ausgreifendes, serielles Begehren nach dem, was wir jeden Tag sehen, was uns jeden Tag zu sehen gegeben wird auf den Bildschirmen, sagt Hannibal Lector zu Clarice Starling: What does he do, this man you seek? – He kills foreigners, he posts hate speech, he votes for nazis. – No! That is incidental. What is the first and principal thing he does, what needs does he serve by killing, posting, voting? – Anger, social acceptance, sexual frustration, liberaler Autoritarismus… – No, he covets. And how do we begin to covet, Clarice? Do we seek out things to covet? Make an effort to answer now. – No. We just… – No. Precisely. We begin by coveting what we see everyday. Don‘t you feel eyes moving over your body, Clarice? And don‘t your eyes move over the things you want?
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Kein Nachruf auf Enis Macis Text. Nein, ein Dub-Mix, denn der Text to blend into something (Nachruf) ist und war richtungsweisend. Er wusste was war und was sein wird, bevor es dann wurde und ist. Seine Zeit war gekommen und nun ist sie vielleicht vorbei und vielleicht ist es zu spät. Es ging ihr um das Auftauchen der neuen Faschos auf Instagram oder tumblr, sie tauchten auf als FaschistInnen oder junge PatriotInnen oder RemigrationsadvokatInnen, sie tauchen noch immer auf wie alle anderen auch auftauchen aus dem virtuellen Ozean, weil nach ihnen verlangt wird, they covet and they are coveted. Enis Maci schrieb prä-Halle, prä-Walter Lübcke, prä-Querdenken, prä-Correctiv und ihr Text gehört zum Contemporary Fascism 101 Syllabus oder Mixtape: Adorno, Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Kathleen Stewart, Ordinary Affects, und Enis Maci, to blend into something (Nachruf). Es ist alles da, es gibt viel zu lernen, was die sogenannte Extremismusforschung oder Soziologie des Rechtspopulismus nicht weiß und nicht wissen kann, was aber alle wissen müssen, die gerade mit irgendetwas in D zu tun haben wollen und müssen, mit diesem Begehren nach den Rechten, das so viele Formen annimmt und Blicke wandern lässt. Unbeforscht und ungenutzt, auch von mir, bleiben: Enis Macis Gedanken zu Faschismus und/als Drag (S. 100ff), die revolutionär sind, potenziell Sonderforschungsbereich; und ihre Lektüre zum Jewish Drag (S. 88f) der FaschistInnen, die die meisten deutschen Antisemitismusdiskussionen der letzten drei Monate sprengen könnte. Ich kann ihren Text hier nicht zusammenfassen, das macht man beim Grundgesetz oder bei Gertrude Stein oder King Tubby auch nicht, sorry.
„Ich vergesse nicht“ (118).
Quellen:
– https://democ.de/halle/7-prozesstag/
– Laudatio Literaturpreis Ruhr: https://www.literaturgebiet.ruhr/magazin-beitrag/literaturpreis-ruhr-2020-ausgezeichnet/
– Edward George, „The Strangeness of Dub“ (2023), Episode 4 „Distance 1: A King Tubby Special“. https://morleyradio.co.uk/programmes/the-strangeness-of-dub-ep4/
– Klaus Theweleit. Männerphantasien Bd. 1. Rowohlt 1982. S. 97
– CopperCab, „I AM MAD!!“, Youtube.com, 01.05.2011. 4.144.488 Aufrufe, https://www.youtube.com/watch?v=3WjJdQfLtTk
– https://www.initiative-2mai.de/
– Heiner Müller: Die Küste der Barbaren, Frankfurter Rundschau, 29. September 1992.
– Correctiv.org. „Geheimplan gegen Deutschland“, 10. Januar 2024. https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/
– Ayşe Güvendiren, „‚Emre‘ is not amused“, Theater der Zeit, 24.1.2024. https://tdz.de/artikel/78f0cf50-48b8-4d34-8c07-b18ecf657c69
– The Silence of the Lambs, Jonathan Demme, 1991